Zweimal dasselbe Bild.
Eine frei schwebende, geländerlose Brücke, betrachtet vom Punkt ihres Entspringens. Oder ihres Endes, je nach Definition. Tragende Elemente im Vordergrund finden ihre Entsprechung dort, wo sie abschließt, das Kameraauge blickt zentriert und leicht erhöht über ihren schnurgeraden Verlauf hinweg und lässt so ziemlich jede Frage nach Länge, Breite und Substanz wie nach der Beschaffenheit des Raums, den sie durchmisst, unbeantwortet. Luther glaubt ein Changieren zu sehen, ineinander fließende Zu-stände solch vager Natur, dass kaum von Schatten oder Aufhellungen die Rede sein kann. Ein Kontinuum bar aller Winkel und Wände, ohne Boden und Decke. Worin immer die Konstruktion schwebt, lässt keinerlei definierte Formen erkennen, auch Leuchtkörper sucht man vergebens. Einzig die torartige Aussparung und flankierende Türen dort, wo sie wie abgeschnitten endet, lassen auf eine stoffliche Begrenzung schließen.
»Warum sehen wir die Szene doppelt?«, wundert sich Ruth.
»Tun wir nicht. Der Stahlträger da.« Links gleichmäßig hell, rechts schlierig wie von einer Materialverfärbung. Natürlich! Sie überschauen die Brücke aus gegenüberliegenden Perspektiven; ein spiegelidentisches Gebilde in einem Ambiente, dessen Eigenschaftslosigkeit umso gespenstischer anmutet.
»Was um alles in der Welt ist das?«, flüstert Ruth. »Wo ist das?«
Changieren trifft es nicht, denkt Luther.
Eher ein Kräuseln des Raums, als treibe etwas dicht unter seiner Oberfläche dahin, ziellos und träge. Nein, noch anders. Das Etwas ist bereits in dem Raum, durchmisst ihn, jedoch unsichtbar, sodass nur die verzerrende Wirkung seines Vorüberflugs zur Wahrnehmung gelangt. Der Timecode passiert die Zehn-Uhr-Marke.
»Jetzt müsste allmählich mal was –«
Beide Kameras fallen aus.
Abrupt füllt sich der Bildschirm mit weißem Rauschen, dann kehrt die Brücke zurück, geisterhaft schwach zuerst, kaum auszumachen im Pixelbrei, rasch Kontur und Form gewinnend, wieder gestochen scharf. Luther langt über Tamys Schulter, stoppt, und sie starren auf den gefrorenen Moment, auf die nachtschwarzen Kästen im Zentrum der Brücke. Mit ihnen erschließt sich zugleich die Größe der absonderlichen Konstruktion. An die hundert Meter überspannend, breit wie ein Highway. Unverändert rätselhaft fließt der Raum, und Luther beschleicht die Vorstellung, die Kästen könnten ihren Ursprung in den wolkigen Kräuselungen und Verzerrungen haben, so wie aus dem Chaos der Hirnströme Worte hervortreten und sich zu klaren Gedanken finden. Er lässt den Film weiterlaufen. Eines der Tore an den Brückenköpfen gebiert die Bewaffneten, im Gefolge die Laderoboter und Pritschenwagen – die Furchen sind demnach Schienen –, der Hüne tritt zu einem der Kästen und legt ein Bedienfeld frei, die anderen gehen auf Distanz, ihre Maschinenpistolen im Anschlag. Langsam gleitet der Kasten auf –
In Tamys Zimmer kann man eine Nadel fallen hören.
»Ein Tank?«, rätselt Ruth.
Eine milchig blasse Scheibe, die sich über die komplette Breitseite erstreckt, pulsierend von Licht. Schemen zeichnen sich ab, Andeutungen, amorphe Formen, bezugslos wie der makroskopierte Ausschnitt eines Schwarzweißfotos, und dennoch ist, was hinter der Scheibe liegt, nicht vollkommen fremdartig. Es weckt Assoziationen in gleichem Maße, wie es sich der Zuordnung entzieht. Luther sieht das Vertraute im Unvertrauten, ähnlich der Welt zellulärer Strukturen, doch was sieht er wirklich? Was kann er sehen auf die Distanz? Der Kasten ist an die fünfzig Meter entfernt, kaum sind seine schwarzen Panzer auseinander geglitten, driften sie auch schon wieder zusammen und entziehen das Schattenspiel seinen Blicken. Und wahrscheinlich wäre alles halb so verstörend, fräße sich nicht ein letzter Eindruck in ihm fest, bevor das Licht endgültig versiegt: dass die Schatten sich auf kaum wahrnehmbare, gleichermaßen hypnotische wie abstoßende Weise bewegt haben – ein Schaudern erzeugendes Dehnen und Tasten, schläfrig und hungrig, als sei etwas im Tank erwacht und dränge nun nach draußen.
In eine Welt, in die es nicht gehört.